Wir berichteten schon (Ein „aufgedrängter Urlaub“), dass dem Arbeitnehmer – natürlich unter den bekannten Voraussetzungen – seine Vergütung zusteht und er zudem gegenüber seinem Arbeitgeber beanspruchen kann, beschäftigt zu werden. Dieser Beschäftigungsanspruch folgt aus den Grundrechten der Art. 1 und 2 GG sowie einfachgesetzlich aus §§ 611, 613 i. V. m. § 242 BGB bzw. – um mit dem LAG Hessen (Urteil vom 28.06.2010 – 16 GaSa 811/10) zu sprechen – aus § 611, 613 i. V. m. § 242 BGB, wobei die Generalklausel des § 242 BGB durch die Wertentscheidung der Art. 1 und 2 GG ausgefüllt wird. Dieser Anspruch des Arbeitnehmers besteht jedenfalls solange wie eine Abwägung seiner Interessen mit denen seines Arbeitgebers nicht ergibt, dass das Anliegen des Arbeitgebers an einer Freistellung mehr wiegt als das des Arbeitnehmers an seiner Beschäftigung. Zu Gunsten der Arbeitgeberseite sind etwa Störungen im Vertrauensbereich – auch jenseits erfüllter Straftatbestände – zu berücksichtigten. Zu Gunsten des Arbeitnehmers kann es sich auswirken, wenn er – über sein „natürliches“ Interesse an seiner Beschäftigung hinaus, welches strategisch (Kundenkontakt, Teilnahme an Fortbildungen) oder schlicht durch Freude an der beruflichen Tätigkeit motiviert sein kann – auf besondere Umstände verweisen kann, auf Grund derer sich eine Suspendierung besonders bemerkbar machte (man stelle sich vor, ein Nachrichtensprecher dürfte ein halbes Jahr nicht arbeiten – was denkt sein bundesweites Publikum?).
Wir waren als Prozessbevollmächtigte in ein arbeitsgerichtliches einstweiliges Verfügungsverfahren involviert, dem folgender Sachverhalt zu Grunde lag: Der Arbeitgeber war der Meinung, dass ein
Mitarbeiter, der länger arbeitsunfähig erkrankt war, noch nicht wieder imstande war zu arbeiten, was der Arbeitnehmer in Abrede stellte. Der Arbeitgeber stellte den Arbeitnehmer einseitig für
etwa vier Wochen von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung frei; der Arbeitnehmer erhielt ungeschmälert seine Vergütung. Der Arbeitnehmer war von seiner dazugewonnenen „Freizeit“ allerdings
überhaupt nicht angetan und beantragte beim Arbeitsgericht (ArbG) den Erlass einer einstweiligen Verfügung dahin, dem Arbeitgeber aufzugeben, ihn ab sofort zu unveränderten Arbeitsbedingungen zu
beschäftigen.
Im Kammertermin vor dem Arbeitsgericht waren die Richter der Meinung, der persönlich anwesende Verfügungskläger hinterlasse einen gesunden Eindruck und gingen davon aus, ihm stehe ein
Beschäftigungsanspruch zu. Das Gericht vertrat jedoch weiter die Auffassung, das Anliegen des Arbeitnehmers sei nicht dringlich – es fehle also an der zweiten Voraussetzung für die einsteilige
Verfügung, dem Verfügungsgrund i. S. d. § 62 Abs. 2 Satz 1 ArbGG i. V. m. § 935, 940 ZPO. Dies wurde damit begründet, dass derjenige, der „bezahlt zu Hause bleiben darf“, von vornherein kein
dringliches, also im einsteiligen Verfügungsverfahren rechtlich relevantes Interesse habe.
Einmal ganz unabhängig davon, welche Partei man vertritt, ist es bemerkenswert, dass ein Gericht überhaupt keine Interessen abwägt, sondern der einen Seite abspricht, ihren – nach Ansicht des
Gerichts grundsätzlich gegebenen – materiell-rechtlichen Beschäftigungsanspruch im Verfügungsverfahren überprüfen zu lassen und ggf. prozessual durchzusetzen. In dem genannten Fall war es dem
Arbeitnehmer insbesondere offensichtlich nicht möglich, eine „normale“ Klage auf Beschäftigung zu erheben; dadurch, dass die Freistellung befristet war, wäre ein Antrag, der sich zeitlich erst
nach dem Befristungsende auswirken kann, ins Leere gelaufen.
Ob man nun – wie offenbar das LAG Hessen (a.a.O.) – annimmt, der Verfügungsgrund sei für den Arbeitnehmer grundsätzlich dann gegeben, wenn der Verfügungsanspruch besteht und durch Zeitablauf
vereitelt wird (wobei das LAG freilich die Arbeitgeberinteressen im Rahmen der Abwägung berücksichtigt) oder eine besonders prekäre Situation für den Arbeitnehmer fordert (Nichtpräsenz als
Nachrichtensprecher u. ä.), so wird man generell nicht ignorieren können, dass die beiderseitigen Interessen abzuwägen sind.
Wir haben im Kammertermin des genannten Verfahrens einen für unsere Partei günstigen Vergleich geschlossen; insofern kam es nicht mehr zu einem Urteil.
In Anbetracht der unterschiedlichen Maßstäbe, die die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung an die „Dringlichkeit“ stellt, beraten wir Sie gerne zum Thema Beschäftigungsanspruch und einstweiliges
Verfügungsverfahren. Eine Auseinandersetzung damit erscheint bereits deshalb sinnvoll, weil erfahrungsgemäß beide Arbeitsvertragsparteien ein Unterliegen in diesem Bereich als Gesichtsverlust
empfinden.